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Mittwoch, 2. November 2022

[Buchrezension] "Ein wenig Leben" von Hanya Yanagihara

 



- Carl Hanser Verlag
- 2015 erschienen
- 958 Seiten
- Originalsprache: Englisch
- übersetzt von Stephan Kleiner

Triggerwarnungen*: Ableismus/Exklusion, Drogenmissbrauch, Essstörung, Gewalt, Intoleranz, Selbstverletzendes Verhalten (SVV), Suizid, Suizidgedanken, Suizidversuch, Vergewaltigung
 
Inhalt
Jude, JB, Willem und Malcolm lernen sich auf dem College kennen und freunden sich an. Das Buch handelt von ihrer Freundschaft, aber vor allem von Judes Leben, das alles andere als leicht war/ist.
 
Vorab: Dieses Buch ist nichts für Leser:innen, die zartbesaitet sind. Es gibt detailreiche Beschreibungen u. a. von Selbstverletzendem Verhalten, Missbrauch u. ä. In meinen Augen ist es wichtig, das zu wissen, um keine falschen Erwartungen an das Buch zu haben. 
Bitte beachtet unbedingt meine weiteren Triggerwarnungen hierzu. 
 
Meinung 
Es hätte so gut werden können. Aber leider verschenkt die Autorin in meinen Augen eine Menge Potenzial. Auf die Wunschliste kam das Buch direkt nach Erscheinen bei mir. Denn es war so ein Roman, bei dem die Meinungen weit auseinandergingen und ich mir ein eigenes Bild machen wollte. Immer wieder hörte ich davon, wie emotional es sei, wie aufwühlend und wie sehr man mitleide mit Jude.   

Schließlich begann ich es Anfang Oktober in einer Leserunde mit Julia (unten verlinkt). Und wir hatten beide das Gefühl, uns läge ein anderer Text vor, eine andere Geschichte. Denn wir haben festgestellt, dass bis zur Hälfte, also ca. 450 Seiten lang (!) einfach GAR NICHTS passiert. Es gibt immer wieder Andeutungen auf Judes Vergangenheit und was ihm so Schreckliches geschehen ist. Aber es wird zunächst nicht erzählt. Stattdessen verliert sich die Autorin in langatmigen Detailbeschreibungen einzelner Szenen, die zeitlich kaum eingeordnet werden können. Ich vergaß am Ende eines Leseabschnitts, was am Anfang überhaupt passiert war. Die Sätze sind lang und der Schreibstil sehr schwierig. Ich brauchte lange, um mich darin zurechtzufinden. Es las sich für mich wie eine Aneinanderreihung von Szenen und Beschreibungen, die keinem roten Faden folgten, sondern willkürlich aneinandergereiht werden. 
 
Hinzu kommen eingeflochtene Briefe, die erst auf den zweiten Blick als solche zu erkennen sind und bei denen es mir zunächst ein Rätsel war, wer hier an wen schreibt. Das wurde erst später klar.

Dann gibt es plötzlich einen Wendepunkt und die Autorin deckt jene einzelnen Andeutungen von der ersten Hälfte auf. Auch hier fiel es mir zunächst schwer, jede einzelne Szene zeitlich in Judes Leben einzuordnen. Erst später ergab sich für mich dann ein ungefähres Bild - und zwar eines der Grausamkeit. Dabei gab es aber ein großes Problem für mich: Ich las seitenweise über menschliche Abgründe und konnte mit Jude einfach nicht mitfühlen. Er blieb mir bis zum Schluss sehr fern. Die Autorin meint, immer noch eine Schippe drauflegen zu müssen. Judes Leben ist wirklich eine Aneinanderreihung von Begegnungen mit Menschen, die es schlecht mit ihm meinten. Dadurch gibt es viele Wiederholungen, denn die Grausamkeiten, die Jude erlebt, führen bei ihm immer wieder zu Selbstverletzendem Verhalten. Das wird sehr plastisch beschrieben und das war auch für mich kaum auszuhalten, darüber zu lesen. Aber sonst habe ich einfach nicht mit ihm mitfühlen können.
 
Die Autorin beschreibt lieber über hunderte Seiten Grausamkeiten, um vermeintliche Sensationsgier der Lesenden zu befriedigen, anstatt sich mit Charakterentwicklung zu beschäftigen, Widersprüche auszuräumen oder die Tiefe der Freundschaft von Jude, JB, Willem und Malcolm zu beleuchten. Denn Malcolm hätte man getrost komplett als Figur streichen können. Er taucht nur am Rande auf und ich kann mich an fast nichts erinnern, wenn er mal auf der Bildfläche erscheint. JB ist Künstler. Damit ist so ziemlich alles über ihn gesagt. Es gibt zwar einige Berührungspunkte (eher negativer Art) in Bezug auf Jude, aber das war es auch schon fast. Einzig Willem ist Jude nah und die Freundschaft der beiden habe ich bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehen können. 
 
Hier hätte ich mir vier Charaktere mit Ecken und Kanten gewünscht, mit Erkennungsmerkmalen, mit einer Entwicklung, die sie durchmachen. Aber nicht solche blass bleibenden Figuren, die mir viel zu fern geblieben sind. 

Hinzu kommen die Nebenfiguren, die die Autorin hätte reduzieren und dafür im Einzelnen ausschmücken können. Oft wird aufgezählt, welche Personen bei einer Veranstaltung dabei waren. Die ganzen Namen konnte ich mir nicht merken und sie hatten auch keine wirklichen Erkennungsmerkmale. Es gibt zwar auch Figuren, die mehr Raum bekommen, aber auch diese kommen zu selten zu Wort. 
 
Ferner schneidet die Autorin wichtige Themen an wie Autismus und LGBTQIA+-Beziehungen, allerdings überlädt sie die Handlung dadurch und kratzt hierbei nur an der Oberfläche. Es wäre für meinen Geschmack besser gewesen, sie hätte weniger eingebaut und wäre dafür tiefgehender darauf eingegangen. So hat es mich zum Beispiel verwirrt, dass eine Gruppe lesbischer Frauen sich nacheinander für unsere männlichen Protagonisten "interessieren". Was soll das bedeuten? Es ergibt für mich nicht wirklich Sinn.
Was mich in diesem Zusammenhang auch gestört hat, war die (nicht existente) Darstellung der Möglichkeiten zweier Männer, miteinander zu schlafen. Lediglich stattfindende Penetration scheint hier für die Autorin zu gelten, was in meinen Augen falsch ist.

Warum habe ich das Buch dann nicht abgebrochen, wenn es mir doch so gar nicht zu gefallen schien? Zum einen las ich es in einer Leserunde, die ich selbst mitorganisiert habe. Da fällt es mir schwerer, ein Buch abzubrechen. Zum anderen (und das ist der wichtigere Aspekt): Ich wollte gar nicht wirklich abbrechen. Denn es gibt immer wieder auch gute Momente im Buch, fast poetische Sätze, von denen ich mir mehr gewünscht hätte. Denn die Autorin kann in die Tiefe gehen, sie kann starke Formulierungen verwenden. Aber leider blitzt dieses Potenzial für mich zu wenig auf und wird damit verschenkt und überlagert von den beschriebenen Grausamkeiten, die es gar nicht so im Detail gebraucht hätte. Ich hätte auch so verstanden, welches Leid Jude erfahren hat. Da muss die Autorin nicht noch mehr auffahren und noch mehr Personen in sein Leben schreiben, die es nicht gut mit ihm meinten. Zumal kein einziger davon zur Rechenschaft gezogen wird für seine Taten. 

Insgesamt ist es für mich ein langatmiges Buch mit Protagonist:innen, die mir leider fern blieben aufgrund des Schreibstils und dem meiner Meinung nach falschen Fokus der Autorin auf Gewalt statt Charakterentwicklung.
 
Bewertung
 
Weitere Meinungen zum Buch:

*Leserunde* (ACHTUNG: Dort Spoiler enthalten!)

*Triggerwarnungen sind meiner Meinung nach wichtig, deshalb werden sie ab sofort in meinen Rezensionen erwähnt, um Leser:innen zu schützen. *HIER* sind meine Gedanken dazu 

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11 Kommentare:

  1. Hallo Melli,
    das klingt ja insgesamt nicht so gut. Schade, dass das Buch nichts für dich war. Ich habe es vor einiger Zeit gelesen, ich glaube es war 2018, und fand es sehr schwer zu verkraften. Aber irgendwie hat es mich auch fasziniert, dass ich diesen Schmerz so mitfühlen konnte. Mir waren Jude und Willem, im Gegensatz zu dir, sehr nah. Noch heute habe ich das Buch recht präsent im Kopf. Aber trotzdem interessant deine Meinung dazu zu lesen.
    Liebe Grüße, Steffi von
    https://steffi-liest.blogspot.com/

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    1. Hey Steffi,

      das habe ich interessanterweise oft in positiven Rezensionen gelesen - dass die Figuren nach gewesen seien und man mitgefühlt habe. Ging mir ganz anders :D

      Aber es ist schön, dass wir alle so unterschiedlich beim Lesen fühlen und ganz andere Geschmäcker haben.

      Liebe Grüße Melli

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  2. Danke für die aufschlussreiche Rezension. Hab das Buch auf der WuLi, aber werde das jetzt nicht lesen/hören. Klingt für mich eher nach Zeitverschwendung.

    LG Alica

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    1. Hey Alica,

      das Buch war so gar nichts für mich. Was ja nicht heißen muss, dass Du es mögen würdest - wenn man das hier überhaupt so sagen kann.

      Vielleicht ist es auch als Hörbuch ganz anders wahrzunehmen, denn Nicole zum Beispiel mochte das ja wiederum sehr.

      Liebe Grüße Melli

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  3. Hallo Melli,

    ich habe das Buch völlig anders wahrgenommen. Ich habe mich in Jude und Willem regelrecht verliebt. Das Buch ist bei mir 5 Jahre her und es hallt noch immer nach. Ich fand auch die Charakterentwicklung ganz toll.

    Liebe Grüße
    Nicole

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    1. Hey Nicole,

      so kann es gehen ^^

      Vielleicht liegt es daran, dass Du es als Hörbuch gehört hast?! Ich hatte die positive Rezension bei Dir gesehen und sogar unten bei dem obigen Beitrag verlinkt als weitere Meinung.

      Bei Dir wollte ich ausnahmsweise nicht kommentieren, um das nicht runterzuziehen :D

      Mein Buch war das leider so gar nicht. Aber gut, dass wir nicht vollkommen alle Bücher gleich gut finden xD

      Liebe Grüße Melli

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    2. Hallo Melli,

      ich war richtig erstaunt als ich deine Rezension gelesen habe. :D Die Verlinkung habe ich gesehen, aber ich hatte mir wirklich gedacht, dass du es magst. Immer passt es eben nicht.

      Nein, ich glaube gar nicht, dass es am Medium liegt. Das Buch spaltet eher die Leserschaft. Die einen lieben es, die anderen mögen es gar nicht. So ist es nunmal. Manchmal springt der Funke nicht.

      Liebe Grüße
      Nicole

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    3. Hey Nicole,

      da gebe ich Dir Recht. Hier hat es einfach nicht gepasst.

      Habe mich mit Julia da eher durchgequält. Sie hat es ähnlich wie ich empfunden. Das ist wiederum witzig :D

      Liebe Grüße Melli

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  4. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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    1. Sorry, zu energisch in die Tasten gehauen, zu viele doofe Fehler...hier noch einmal mit hoffentlich weniger Fehler:


      Ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja, jaaaaaaa liebe Melli

      Genau das! Ich kann jedes einzelne Wort unterschreiben!!!! Charakterentwicklung? Generell Entwicklung? Nope, nein, definitiv so gar nicht, nirgends, in keinem Handlungsstrang, bei keiner Figur, nichts...

      Und zur Sexualität zweier Männer habe ich in meiner Rezension fast genau die gleiche Formulierung verwendet, wie du. Wie kann eine Autorin so prüde sein? Warum über Sex schreiben, den man sich nicht annähernd vorstellen kann?

      Und generell: sex sells irgendwie, Gewalt halt auch, und leiden kann ja so oder so nur Jude weil er "ALLES" erlebt hat, niemand sonst kann mit ihm "mithalten" und ihn verstehen, niemand sonst darf leiden. Ein Schlag ins Gesicht aller Opfer (sexueller) Gewalt.

      Aber: Willem und die Briefe...kurz vor Schluss wurde ich noch ganz, ganz, ganz wenig mit dem Buch versöhnt. Handwerklich/sprachlich ist dieses Buch aber ein absoluter Griff ins Klo. Von der Handlung her wäre vielleicht noch etwas möglich gewesen, die Grundidee hat es in sich, aber man, die Umsetzung.

      Und weisst du, was mich - fast - am meisten ärgert? Ich habe über 40 Franken für dieses Buch bezahlt...

      Alles Liebe an dich
      Livia

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    2. Hey Livia,

      haha, das kenne ich mit dem "zu energisch in die Tasten hauen" xD

      Oje, das tut mir leid, dass Du so viel Geld (und ja auch Zeit) in das Buch investiert hast. Ich habe es geliehen und bin sehr froh darüber.

      Manchmal sollte man sich einfach kein eigenes Bild machen, sondern zu anderen Büchern greifen :D

      Leider haben mich auch die letzten Seiten/Briefe nicht versöhnt. Aber hey, wir haben diesen Schinken gelesen und irgendwann vom SuB befreit ;-) Dann können wir doch so gut wie jedes andere Buch auch schaffen :D

      Liebe Grüße Melli

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